Ein Kind aus meiner Klasse mag mich nicht…

                                                                         Grenzen setzen – Kind LARA

 

Lara mag mich nicht. Das äußert sich in Kommentaren wie „Frau Meier (die Klassenlehrerin aus Klasse 1/2) hat das aber anders gemacht.“, Antworten wie „Das sage ich dir nicht“ und Aussagen in anonymen Schreibanlässen („Ich mag meine Lehrerin nicht“). Gleichzeitig sucht sie aber den Kontakt zu mir. Sie spricht laut über mich, damit ich es unbedingt höre. Wenn ich sie darauf anspreche, was sie mir sagen möchte, legt sie den Finger an die Lippe, schaut in die Luft und sagt „Äh nichts.“ Sie verletzt absichtlich mit Worten – anfangs mich und zunehmend auch bewusst ihre Mitschüler.

Ja, anfangs verletzte Lara mich. Ich bin ehrlich. Es hat mich als Berufsanfängerin nicht kalt gelassen als ich schwarz auf weiß kurz nach der Klassenübernahme lese: „Ich mag meine Lehrerin nicht.“ Ich wollte gemocht werden. Bin ich so schlimm? Warum mag Lara mich nicht? Ich war verunsichert, verletzt und gekränkt.

Ich telefonierte mit meiner Mama und erzählte ihr von meinen Erlebnissen. Sie sagte mir: „Bist du da um gemocht zu werden? Du triffst als Lehrkraft auch unpopuläre Entscheidungen – das gehört zur Erziehung von Kindern und zur Übernahme von Verantwortung einfach dazu. Du MUSST nicht gemocht werden.“ Und sie fragte: „Hast du unpopuläre Entscheidungen gegenüber Lara getroffen?“

Ich dachte nach – und kam zu dem Ergebnis: JA, das hatte ich.
Lara hat Diabetes und sowohl in der 1. als auch 2.  Klasse kam in jeder Pause ihre Mama in die Klasse, um den Blutzuckerwert zu prüfen und zu regulieren. Kurz bevor ich dann als Referendarin meine erste Klassleitung übernahm, lernte ich die Klasse, Lara und ihre Mutter kennen. Die Mama bat mich noch vor den Sommerferien um ein Elterngespräch. Während des Gesprächs fing die Mama zu weinen an: Lara entwickle sich zum Einzelgänger und sie habe Angst, wie das in der 3. Klasse weitergehen würde. Noch im Gespräch regte ich zu einem ersten Schritt an, wie dem entgegengewirkt werden kann. Lara soll über die Sommerferien lernen, ihren Blutzuckerwert selbst zu regulieren. Durch das tägliche Erscheinen der Mutter im Klassenzimmer, die vorsichtige Umsorgung Laras (die Mama ist sehr fürsorglich und besorgt) ist Lara automatisch besonders. Und Kinder sind Kinder, sie nehmen keine falsche Rücksicht. Lara ist durch diese Umsorgung der Mutter eine Besonderheit. Wenn Lara in die Klasse integriert werden soll, dann muss die Umsorgung in der Schule auf ein Mindestmaß reduziert werden, um Laras Sonderstatus zu revidieren.

Die Eltern und Lara gaben während der Sommerferien wirklich alles: Lara konnte ab dem ersten Schultag im 3. Schuljahr selbstständig messen, regulieren, abstecken, etc. Lediglich ein Handywecker erinnert sie täglich an ihre Aufgaben. Das meinte ich mit Mindestmaß. Toll, wie die Familie das hinbekommen hat. Doch das war auch eine unpopuläre Entscheidung! Lara war es aus Klasse ½ nicht gewohnt, aus ihrem Schonraum geholt zu werden. Sowohl von ihrer Mama als auch der Klassenlehrerin wurde sie umsorgt, immer wieder gefragt, ob alles in Ordnung sei, während ich Lara wie eine normale Schülerin behandelte. Ich forderte sie. Natürlich aus besten Absichten: um Lara dabei zu helfen, eine selbstständige und selbstbewusste Schülerin zu werden, die sich in die Gemeinschaft integrieren kann, da sie eine von uns allen ist. Extrabehandlungen bekam sie von mir nicht (außer in wenigen Notfällen, als die Werte rapide sanken / stiegen).

Vielleicht nimmt Lara mir das unbewusst übel. Sie ist bei mir nicht das Kind mit Diabetes. Sie ist Lara, von der ich dasselbe verlange, wie von den anderen Kindern aus meiner Klasse.

Dazu gehört auch, dass ich ihre Tendenzen zu bewusst gemeinem und verletzendem Verhalten gegenüber ihren Mitschülern nicht einfach hinnahm. Stattdessen nahm ich Lara mehrmals zur Seite, spiegelte ihr ihr Verhalten und zeigte ihr die Konsequenzen auf.

Beispielsweise redete sie lauthals von einem Geheimnis, das so spannend sei. Als ein paar Kinder sie fragten, was das Geheimnis sei – schließlich sprach sie sehr laut darüber – schrie sie: das verrate sie keinem außer Ben und Tarek. Kein Verhalten, dass Mitschüler dazu anregen, das Kind in die Klassengemeinschaft aufzunehmen. Stattdessen kommentierten sie ihr Verhalten immer öfter mit „Lara ist echt komisch.“ Und sie hatten recht. Sie selbst grenzte sich aus. Die anderen nahmen sie mit ihren Eigenarten hin, aber Lara schien es darauf anzulegen, dass die anderen ihr sagten, dass sie nicht dazugehörte und nicht wie sie seien.

Im Laufe des Schuljahres äußerte sie Aussagen während eines Schulausflugs wie „Ich laufe weg.“ Als ich sie fragte, warum sie weglaufen wolle, antwortete sie „Damit ihr mich vermisst.“ Diese und andere Aussagen verließen mich dazu, die Eltern zu kontaktieren. Sie sehen Lara kaum in der Gesellschaft mit anderen Kindern und kennen solche Verhaltensweisen von zuhause kaum. Da Lara während der Schulschließung starke Stimmungsschwankungen zeigte und die Schule laut Eltern stark vermisste (Hier zeigte sich mir, wie falsch ich manches eingeschätzt hätte. Nie im Leben hätte ich auch nur vermutet, dass Lara die Schule vermissen würde), war sie bereits in psychologischer Behandlung. Das empfand ich angesichts des aktuellen Verhaltens in der Schule als richtigen und wichtigen Schritt.

Das vierte Schuljahr begann und Laras Tendenzen zu verletzendem, einschüchterndem Verhalten stiegen. Bereits am dritten Schultag äußerte sie Aussagen wie „Ich töte euch alle“ und „Ich fackele die Schule ab“ und ich handelte sofort. Ich rief die Eltern an und bat direkt zum Gespräch am nächsten Tag. Dieses Informationsgespräch ging sehr kurz, da es mir auf eines ankam:
1) Die Eltern zu informieren, um handeln zu können: Gespräche, Informieren des Kinderpsychologens
 und um ein realistisches Bild ihrer Tochter zu erhalten. Bereits einige Male hatte ich das Gefühl, dass Lara sich zuhause ganz anders gab als sie es in der Schule tat. Für dieses Gespräch bat ich Lara außerhalb des Klassenzimmers zu warten. Ich erklärte den Eltern die letzten Äußerungen und dass ich Lara nun reinholen würde, um ihr ganz klar zu sagen, was ich von ihr erwarte. Die Eltern sollen dies aus Transparenzgründen mithören (sie wissen, was ich von Lara verlange) und auch um meinen Ton zu hören: Jetzt geht es um Grenzen setzen. Ich fordere Lara wieder heraus und zwar darin, ihr Verhalten mit ihren verletzenden Äußerungen zu ändern.

2) Lara kam ins Klassenzimmer und ich sagte vor den Eltern in sehr bestimmten, klaren Worten (mit entsprechender Mimik, es war mir ernst, ich war nicht unfreundlich, aber ein Lächeln ist mir in so einem Moment nicht passend:

Lara, ich ERWARTE VON DIR …
1) … dass du, wenn du hereinkommst am Morgen mich begrüßt (Oft huschte sie schnell zum Platz, obwohl es mir wichtig ist, dass wir uns alle gegenseitig begrüßen. Ich möchte jedes Kind aktiv und bewusst wahrnehmen am Morgen).

2) … dass du aufhörst zu drohen, wie „Ich töte euch alle“. Das macht anderen Kinder Angst, verwirrt sie oder ärgert sie. Lass das!

Laras Blick sprach Bände: Diese klaren Ansagen vor den Eltern behagten ihr nicht. Allein als ich ihr sagte, dass ich ihre Eltern anrufen werde, meinte sie „Oh Schreck“. Aber nicht aus Angst vor einer Strafe, sondern weil ihre Eltern so mitbekommen, wie sich Lara in der Schule verhält.

Da ich Lara bereits oft aus dem Unterricht beiseite nahm und ihr Verhalten spiegelte, ohne, dass sich etwas änderte, hatte ich keine Erwartungen. Aber es war mir für mich wichtig: Ich musste Grenzen setzen, damit dieses Mädchen mir nicht auf der Nase herumtanzte. Um dieses Mädchen vor sich selbst zu schützen: So gewinnt man keine Freunde. So wird der Schultag für alle anstrengend.

Das Gespräch war an einem Freitag und am Montag kam Lara wieder in die Schule. Seitdem hat sie keine Äußerungen dieser Art mehr getätigt. Sie grüßt mich. Sie ist (in ihrem Rahmen) freundlich. Sie kann normal mit ihr sprechen. Rückblickend glaube ich, dass diese Ansage vor den Eltern schon längst fällig war:

  • Um Lara einen Rahmen zu geben, da zuhause vor lauter Fürsorge keine Begrenzung erfährt. 
  • Damit Lara Achtung für mich entwickelt: Du darfst mit mir nicht umgehen wie du möchtest. Ich fordere von dir grundsätzliche Verhaltensweisen, wie grüßen und einen freundlichen Ton.
  • Um mir selbst einen neuen Umgang mit Lara zu ermöglichen: Ich hatte zu viel persönlich genommen und heruntergeschluckt – vielleicht, weil ich dem falschen Ziel hinterhergerannt bin: von jedem Kind gemocht zu werden. Das werde ich nie und ich weiß nun auch: das muss ich auch nicht.
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